Aimo Nyland
Aber du bist doch... / du wirst doch.../ du hast doch... / du kannst doch... 😏

Ich denke, sowas haben viele ADHSler schon mal gehört: »Du bist doch nicht auf den Kopf gefallen - warum fliegst du immer wieder überall raus oder findest gar nicht erst was...? / Du hast doch so viel Talent und Kreativität - warum machst du nix draus? (also wenn ich du wäre, dann... blabla) / du kannst doch reden wie'n Wasserfall und bist zudem sprachgewandt - warum gehst du Konfrontationen aus dem Weg und stehst lieber als Verlierer da? Oder warum nutzt du dein Talent nicht auf der Bühne?«
Und so weiter...
Diese äußerlichen Misswahrnehmungen über unsereins führen in der Regel zu ganz viel Frust, Unbehagen, Selbstzweifeln und im schlimmsten Falle auch Depressionen - so wie bei mir.
Klar, oftmals ist es zweifelsohne so, dass wir eigentlich was drauf haben. Uns mangelt es aber eben extrem an der Umsetzung und nicht zuletzt an der Disziplin. Nicht selten starten wir ADHSler mit irgendetwas zig Gehversuche, fallen hin, stehen auf, starten erneut, fallen hin, stehen auf, und das unzählige Male, bis der letzte Funken Hoffnung verglüht ist.
Es ist ja nicht so, dass uns die Motivation fehlen würde und wir faul wären - nein, wir haben fast alle den krassen Wunsch, uns zu verwirklichen und unsere versteckten Talente zu nutzen. Und das zeigen wir auch meistens und gehen die Dinge spontan an, ohne uns mit angeblich »massentauglicheren« Ansagen und Klischees von unserem Weg abbringen zu lassen. Immer wieder und wieder versuchen wir es, aber eben leider unvollständig, anstatt einmal richtig und komplett! Und genau das ist das große Manko. Das macht unsere Art so furchtbar tückisch. Ganz einfach, weil a. niemand bemerkt, dass wir uns bis zum bittersten Stress und Unmut bemühen und b. weil wir unfassbar (und leider eben unsichtbar) darunter leiden, dass wir durchaus viele Begabungen und Visionen haben, in ganz häufigen Fällen aber nicht eine einzige davon umsetzen. Zumindest nicht mit dauerhafter Initiative, dauerhaftem Fleiß und effizienter Dynamik. Egal wie oft wir auch nach dem Fall wieder aufstehen und es erneut versuchen, wir scheitern. Manche von uns Jahre, Jahrzehnte, wenn nicht sogar manchmal auch ein ganzes Leben lang ...
Und alles, was wir nicht zu Ende bringen oder von dem wir träumen, es aber niemals anfangen/umsetzen, wird im Außen gerne dann mit Faulheit, Desinteresse, Trägheit, Widerwille, Gleichgültigkeit etc. quittiert. Man kann es zum Geier nochmal niemandem begreifbar machen, welch katastrophale Frustration fast immer hinter solch unbeendeten oder gar gänzlich erfolglosen Versuchen steht, und dass das alles eben auf einem krankhaften Muster einer »Exekutiven Dysfunktion« basiert und nicht auf vorsätzlicher Passivität nach dem Motto: »Scheiß drauf - mir doch egal ...«
Und aus dem Fakt heraus, unsere extremen Struggles niemandem begreifbar machen zu können, resultiert dann schließlich einfach nur noch, dass man nicht mehr ernst genommen wird. Weder in privat-familiären, noch in der beruflichen, noch in der medizinischen Ecke. Und das wiederum setzt ganz allmählich immer mehr psychisch-belastendes Geröll in Gang, bis dieses dann irgendwann zu einer Lawine mutiert, die uns selbst überschüttet und jegliche Hoffnungen, Perspektiven, ja vielleicht sogar Lebensgeister verschwinden lässt ...
Ich bin z.B. jemand, der mittlerweile echt empfindlich auf solche »Überschrifts-Floskeln« reagiert. Und jedes Mal, wenn wieder jemand meint, mir dämliche Ratschläge geben zu müssen, ferner aber auch meint, mir unverschämt und unsensibel aufdrücken zu müssen, dass ich ja quasi selbst Schuld sei, wenn ich meine Talente nicht nutzen würde, reißt es mich in einen gewissen Selbsthass und Zweifel über Zweifel sowie ein Mißtrauen in alles und jeden, überrollen mich mal wieder.
Ich würde mich durchaus als jemanden mit wirklich viel kreativem Output und Entertainergeist bezeichnen. Aber drei Jahrzehnte an »Trial&Error« haben eben dazu führen müssen, meine absolute Berufung und Bestimmung mit samt ihrem Potenzial in den neuronalen Verließen meiner skurrilen und irgendwie gefühlt »verkehrten« Persönlichkeit »verrotten« zu lassen.
Und es schmerzt. Es schmerzt massiv! Heute noch genau wie über all die Jahre der permanent erlebten Pannenstrecken. Auch wenn diesen Schmerz niemand sieht. Dieses Gefühl, einfach zu wissen, ein ausgeprägter und talentierter Kreativling zu sein mit durchaus sehens-, hörens- und lesenswertem »Stuff«, seit jeher meine Potenziale beruflich aber nicht greifen und nutzen zu können und eingefräste Glaubenssätze wie: »Ich bin doch eh nix wert« sogar real werden zu lassen und für mich selbst zu einer Überzeugung zu machen, das hat mich neben all den sowieso schon typischen ADHS Symptomen, die bereits ausreichend «abfucken«, zu einem psychischen Krüppel werden lassen. Und ich sage das keinesfalls aus einer Depri-Laune oder aus chronischem Pessimismus heraus. Ich kann mir, abseits von körperlichen Qualen natürlich, kaum etwas schlimmeres vorstellen, als sich drei Jahrzehnte voller Demütigungen, Missgunst, Chaos und unrealistischen sowie wirrköpfigen und chancenlosen Zielsetzungen durchs Leben zu schleppen, während Andere stets fröhlich, erfolgversprechend und vor allem RASCH an einem vorbeiziehen wie'n Rennpferd auf Koks. Im schlimmsten Fall mit gleichen oder ähnlichen Zielen.
Es ist denk ich nicht unbedingt nötig, zu verdeutlichen, wie schwer es einen in Depressionen reißt (die übrigens irgendwann ganz sicher irreversibel chronisch werden), wenn man jahrzehntelang unter seinen Möglichkeiten bleibt und nicht mal weiß, warum das so ist. ( Siehe hierzu auch meinen Artikel über Underachievement: https://www.vierbuchstabler.net/post/underachievement-was-ist-das )
Und weil das natürlich noch nicht genug ist, kommt noch ein für uns psychisch sehr zermürbender Fakt obendrauf, der wiederum allen Trollen, Provokateuren, Zweiflern und Leugnern so richtig schön in die Karten spielt und die kranken Vorurteile der Gesellschaft bezüglich ADHS befeuert. Vorurteile, die da wären: »Man könne immer, wenn man wolle ... ADHS wüchse sich im Erwachsenenalter aus ... Man sei einfach nur zu faul ... ADHS sei eine Modediagnose ... Man mache sich einfach nur zu viele Gedanken ...«
Solche Meinungen tun weh, sie stigmatisieren, verhindern, behindern, belasten, stempeln ab, diskriminieren, degradieren und man könnte fast schon sagen, sie entzweien uns in ein Zwei-Klassen-System: Gesund und Psychisch krank. Schlimmer geht's natürlich nimmer ...
Ich wünsche mir für mein Handicap noch wesentlich mehr Toleranz, vielleicht aber auch einfach mal gesellschaftliches Interesse; dass mal jemand richtig ernsthaft und etwas tiefsinniger wissen möchte, was hinter all den Problemen steckt, die uns ADHSler so plagen. NACHFRAGEN! SICH ERKUNDIGEN! Zeigen, dass einem etwas an den Problemen und Herausforderungen Anderer liegt. Ein bisschen mehr Toleranz und harmonisches Miteinander könnte in der Tat so einfach sein, würden Viele sich nicht nur an Vorurteilen, haltlosen Theorien und Dogmatismus festbeißen, sondern einfach mal interessiert und unvoreingenommen mit jenen Menschen reden anstatt sie mit anmaßender Besserwisserei auf die Palme zu bringen. Das wäre noch viel viel wirkungsvoller, als jedes Jahr 5.000 neue Sachbücher über ADHS auf den Markt zu bringen, die sowieso größtenteils niemand liest.
Ich habe jedenfalls um die 30 Jahre lang kein wirklich sinnbringendes und erfüllendes Leben gehabt wegen meinem bis knapp in die Vierziger unerkannten ADHS-Dämon. Und wenigstens für die nächsten 30 Jahre hätte ich eigentlich gerne nochmal eins. Zum Glück konnte ich durch viel anderweitig neurodivergenten, aber auch therapeutischen Zuspruch mittlerweile als Autor und speziell in der Aufklärungsarbeit einigermaßen meinen Frieden finden und mich weiterentwickeln.
Schicksale wie meines, wünsche ich aber definitiv NIEMANDEM mehr. Und mit dem heutigen Stand der Wissenschaft dürfte es solche extrem Spätdiagnostizierten auch eigentlich gar nicht mehr geben.
Ich werde mich zumindest weiterhin selbstlos mit Schrift, Kreativität und Kunst dafür einsetzen, dass es zeitnahe soweit kommt, dass all wir Neurodivergenten mutig, achtsam und in Einklang mit der neurotypischen Masse leben können. Ohne Stigma - ohne Rechtfertigung - ohne Ausgrenzung!
Und dass sich idealerweise der vorwurfsvolle und wertende Unterton solcher Floskeln wie in der Überschrift, in positivere Leitmotive verändern wird - so ganz nach dem Motto:
»Du bist ... gut so wie du bist! / Du wirst ... deinen Weg finden! / Du hast ... genug Zeit! / Du kannst ... stolz auf dich sein!»
»Wir schaffen das!« - Angela Merkel 🤣💪